Detailhandel / Retail 2.0

Autor: Alexander Disler

Auch der klassische Detailhandel spürt die Digitalisierung immer stärker. So haben in den vergangenen Jahren Self-Scanning, Self-Check-out oder digitale Preisschilder (die von Papier-Preisetiketten kaum mehr unterschieden werden können) im schweizerischen Detailhandel Einzug gehalten. Wie in vielen anderen Branchen ist dies erst der Anfang der Digitalisierung.
Folgende Entwicklungen sind bereits heute, im Jahr 2018, absehbar. So wird sich die Navigation im Verkaufsgeschäft stark verändern, einerseits kann sich der Kunde durch das Verkaufsgeschäft führen lassen und andererseits werden den Kunden im Laden viel mehr Informationen über die Produkte zur Verfügung gestellt, sei dies mit dem eignen Smartphone, über grosse Bildschirmanzeigen, oder über den Scanner. Die Informationen können, müssen aber nicht, zwingend genutzt werden. Die Technologie wird dabei ein Hilfsmittel sein, um den Kunden in seinem individuellen Tagesablauf zu unterstützen. Deshalb werden neben den heutigen klassischen Detailhandelsgeschäften (Food und Nearfood) weitere Pick-up-Stationen (Abholstellen) eingerichtet werden, an denen für den Kunden auf dem Weg von A nach B (z.B. für Pendler) die gewünschten und bestellten Waren abholbereit sind.

So hat Coop im Herbst 2016 an der Autobahnraststätte Würenlos für die Autopendler ein entsprechendes Abholsystem erprobt. Der Kunde bestellt über Coop@home seine Einkäufe während des Tages und kann auf der Rückfahrt von seinem Arbeitsort die bestellten Produkte während eines kurzen Halts abholen. Migros hat ein ähnliches System mit «PickMup» aufgebaut, welches aber vorerst auf bestimmte (reguläre und bereits vorhandene) Verkaufsgeschäfte aufgebaut ist. So lassen sich die benötigten Produkte vorbestellen und effizienter an einem individuell fixierten Verkaufsort abholen. Weitere solche Pick-up-Stationen, auch marken- und detailhandelsunabhängige Pick-up-Stationen, werden überall entstehen. Die Standorte werden vor allem an Kontenpunkten oder hochfrequentierten Abschnitten liegen, wie z.B. an Bahnhöfen, Autobahnraststätten, Tankstellen, Flughäfen oder Convenience-Shops.

Auch zukünftig werden die aktuellen Werte im klassischen Food-Detailhandel, wie die Frische, die Qualität der Produkte und die handwerkliche Leistung (z.B. frische Brotherstellung) matchentscheidend sein. Dabei wird der Kunde aber mit neuen digitalisierten Leistungen unterstützt, so werden wir in den nächsten 5 bis 10 Jahren mit der Virtual-Reality-Brille einkaufen und dabei gleichzeitig das Kochrezept verfügbar haben, oder den Inhalt unseres Kühlschranks angezeigt erhalten (der Kühlschrank mit Kamera ist bereits heute Realität – so u.a. Samsung).

Der schweizerische Detailhandel befindet sich in einem grossen Umbruch, so schätzt die Credit Suisse in einer Studie, dass bis zum Jahr 2028 rund ein Drittel der 50‘000 klassischen Detailhändler schliessen muss. Dies wären immerhin rund 16’000 Geschäfte. Zieht man die letzten Jahre als Beispiel heran, so sieht man bereits deutliche Anzeichen:

  • Jeans & Co hat alle zwölf Filialen geschlossen und über 100 Kündigungen ausgesprochen
  • Companys hat Insolvenz angemeldet und zwölf Filialen geschlossen, neun Filialen und Standorte konnten an einen dänischen Konkurrenten verkauft werden
  • Paul Kehl hat seine drei Häuser aufgelöst
  • das Modehaus Jamarico mit zwei Läden gab nach 30 Jahren auf
  • Möbel Hubacher wurde an den Konkurrenten Pfister verkauft
  • die Schuhkette Bata hat fünf Läden geschlossen, der Mitbewerber Pasito sogar vierzehn Läden
  • die Modeanbieter Tally Weijl und Chicoree haben je zehn Geschäfte geschlossen
  • die Kleiderkette PKZ hat vier Geschäfte geschlossen
  • Charles Vögele wurde an OVS verkauft. Nach kurzer Zeit streckt nun auch OVS „die Waffen“ und wird liquidiert
  • das Freiburger Modehaus Yendi hat letztes Jahr Konkurs angemeldet
  • die Modekette Blackout machte rund 2/3 ihrer Geschäfte zu; 92 Filialen wurden verkauft und werden so unter neuer Leitung weitergeführt
  • Switcher mit ihren Filialen geht Konkurs
  • Herren Globus und Schild firmieren sich neu unter dem Dach Globus
  • und dann gibt es noch die unzähligen kleineren Detailhändler, wie Sportfachhändler, Buchhändler, Kleiderläden und Einzelfachhändler, die ihren Laden schliessen müssen

Auch in den Shoppingcentern ist diese Entwicklung spürbar, so straffen die meisten Detailhändler/Retailer ihr Filialnetz.
2015 wurde dieser Prozess möglicherweise durch die Frankenstärke und die schlechte Konsumentenstimmung richtiggehend angestossen, zusätzlich und erschwerend kommen die reaktiv hohen Ladenmieten hinzu (die in den Jahren zuvor für Toplagen richtiggehend explodiert sind).

Dies alles hat den Online-Handel befeuert. Einerseits mit neuen schweizerischen Online-Shops, andererseits aber auch denjenigen der vorhandenen globalen Marktplayer. Deshalb ist es nicht überraschend, dass der schweizerische Detailhandel im gesättigten Schweizer Markt Marktanteile ans Ausland oder an die Online-Shops verliert. So hatten Schweizer Konsumenten im Jahr 2015 bereits für CHF 11 Mia. im Ausland eingekauft. Multimarkengeschäfte, kleinere Ketten und das Mittelpreissegment stehen dabei am meisten unter Druck.

Der schweizerische Detailhandel wähnte sich aber möglicherweise auch zu lange in falscher Sicherheit. Denn seit 2013 läuft das klassische Ladengeschäft abseits der Toplagen immer schlechter, ausserhalb der Städte sterben viele Shops weg und nehmen so den Kunden den Reiz, überhaupt dort hinzugehen. Auf diese Weise kommt eine Negativspirale in Gang. Zusätzlich agieren die meisten Online-Shops mit aggressiv kalkulierten Preisen, mit denen die klassischen Detailhändler nicht mithalten können. Die kleineren klassischen Detailhändler kommen dadurch unter grossen Druck, der Absatz der Produkte sinkt (der Markt ist gesättigt), die Fixkosten bleiben dabei aber gleich hoch, somit wird es immer schwieriger, überhaupt auf eine schwarze Null zu kommen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Kunden noch preissensibler einkaufen als in der Vergangenheit. Viele Detailhändler dachten bis anhin, dass sperrige und grosse Güter (wie Möbel) oder Frischprodukte nicht im grossen Stil online verkauft werden können. Dies war auch der Grund, dass viele Detailhändler in den letzten Jahren grosse Beträge in neue Shop-Konzepte, Ladeneinrichtungen und den Umbau der Verkaufsflächen investiert hatten, jedoch nicht in die neuen digitalen Technologien.

Dabei stellt sich heutzutage eher die Frage, ob der zukünftige Kunde eine Produktegattung eher on- oder offline einkauft. Täglich kommen neue Produkt-Kategorien im Online-Marktplatz hinzu, auch von Produkten, von denen man dies nie erwartet hätte. Und die Entwicklung wird weitergehen. Unsere Gesellschaft wird immer technikaffiner, was sich bei den Digital Natives deutlich zeigt. Diese technikaffine Kundschaft wird bis zum Jahr 2020 die Mehrheit der Konsumenten stellen, wie eine Studie von PricewaterhouseCoopers zeigt. Bis dann in vier Jahren werden die Online-Umsätze den dominanteren Bereich der Geschäfte ausmachen, aber so wie die Zukunft aktuell aussieht, wird eine Kombination zwischen Online und Offline das beste Verkaufsmodell sein. Dieses Modell wird als «Clicks and Mortar» (= eine Form des Multi Channel Retailing, bei der mind. ein elektronischer Absatzkanal (Click) und ein stationäres Verkaufsgeschäft (Mortar) vorhanden ist) bezeichnet. So baut Digitec als Online-Shop in der gesamten Schweiz eigene Show-Rooms und Verkaufsgeschäfte auf oder man erinnere sich an das Beispiel der «Amazon Books», welche im Februar 2015 an der «Purdue University» USA einen Shop eröffnete.

Diese Entwicklung ergibt für den stationären Handel grosse Chancen, insofern, dass die Möglichkeiten des Online- und des Offline-Business sinnvoll miteinander kombiniert werden. Verkaufsgeschäfte lassen sich als Pick-up Stationen oder als Rückgabe-Ort verwenden, aber auch ein physischer Kundendienst kann angeboten werden. Solche Filialen müssen nicht zwingend räumlich gross sein, denn die Produkte lassen sich an Terminals elektronisch vorstellen, der Kunde kann bequem auswählen und sich die Produkte danach nach Hause senden lassen. Impuls-Sortimente können sehr wohl vor Ort physisch ausgestellt werden. Im Vergleich zu Media Markt oder Saturn, bei denen alle Produkte in riesigen Verkaufsgeschäften (auf grosser Fläche) noch klassisch ausgestellt werden, bietet die neue Form deutlich tiefere Transaktionskosten (weniger Raummiete, weniger Personal, tiefere Lagerkosten, keine Ladendekoration oder keine Diebstähle). Anders ausgedrückt: Online-Handel benötigt viel weniger Fläche, Lagerbestand und Personal. Der britische Heimelektronik- und Haushaltswarenhändler Argos ist hierzu ein gutes Beispiel. Er hat seine 750 Filialen an Toplagen, diese sind durchgestylt (analog Apple-Stores) und haben keine oder nur wenige Produkte ausgestellt. Der Kunde wird von den Verkäufern fachkompetent beraten, die Ware wird per Tablet bestellt und danach innerhalb von 90 Minuten direkt nach Hause geliefert und dies im ganzen Land (England).

Im Modebereich ist Burberry das grosse internationale Vorbild. Der Modekonzern hat alle Verkäufer mit einem iPad ausgerüstet, auf denen der Verkäufer auf einen Blick alle Kundendaten verfügbar hat, so u.a. die Kleidergrösse, bisherige Einkäufe, persönliche Vorlieben (z.B. kulinarische Vorlieben, wichtig etwa für Events). Über das Tablet erledigt der Verkäufer auch den Check-out und mailt dem Kunden sogar den Kassenbon zu. Sollte ein Kleidungsstück nicht verfügbar (Grösse oder Farbe) sein, so wird die bestellte Ware dem Kunden am nächsten Tag an die gewünschte Adresse zugestellt. Bereits 22,5 Prozent des Jahresumsatzes 2015 erwirtschaftet der englische Konzern online am Verkaufspunkt. Burberry als Traditionsmarke hat den Wandel von Offline zu Online erfolgreich vollzogen und bietet dem Kunden echte Mehrwerte.

In den brasilianischen Filialen von C&A informiert der Kleiderbügel die Kunden mittels eines elektronischen Zählers darüber, wie viele «Likes» das entsprechende Produkt auf Facebook bekommen hat – dies bietet im Social-Media-Zeitalter eine Entscheidungshilfe.

So werden heutzutage aber auch andere Gadgets eingesetzt, wie z.B. elektronische Spiegel, die aufzeichnen, was man anprobiert, mittels Facetime können zudem Freunde oder Partner ihr Urteil zum Kleidungsstück abgeben. Selbstverständlich kann der elektronische Spiegel auch das gleiche Kleidungsstück in einer anderen Farbe oder einem anderen Muster anzeigen.
Der klassische, traditionelle Retailer, mit den bestehenden Strukturen, Organisationsformen und Lieferservices, kommt vielfach bereits mit dem Aufbau und der Verzahnung (mit dem bisherigen Geschäft) eines E-Commerce-Systems an den Rand seiner Ressourcen. Deshalb besinnen sich viele Detailhändler lieber auf ihre alten Stärken und bauen jene Bereiche aus, die online kaum abzudecken sind. Dies sind der direkte Kundenkontakt und das (möglichst emotionale) Einkaufserlebnis. Um dies zu erreichen, muss der Detailhandel mehr Erlebnis bieten, so könnten in den Verkaufsgeschäften z.B. am Abend Modeschauen durchgeführt werden, der Shop wandelt sich zu einem Club, Künstler treten auf, Vernissagen locken Kunden – anders ausgedrückt: das Verkaufsgeschäft übernimmt weitere Funktionen und macht es dadurch zu einer attraktiven Begegnungszone. Manor hat mit einem neuen Ladenkonzept (inkl. einem Online-Konzept) diesbezüglich bereits entsprechende Erfahrungen gemacht, zwischen den Regalen finden Tanzvorführungen oder auch Yoga-Kurse statt, oder man erlernt live im Shop, wie man Mozzarella herstellt. Für den Umbau hat der Schweizer Warenhauskonzern mit seinen 64 Filialen rund eine halbe Milliarde Franken investiert. Das Ziel bestand darin, den Kunden vermehrt ins Zentrum zu stellen, Online (Web) und Offline (Filiale) zu verbinden und gesamthaft den Marktanteil zu steigern. Dabei soll das Online-Geschäft neu 5 bis 10 % des Gesamt-Umsatzes generieren.

Verkaufsläden werden zu Erlebnisorten
Der Wert «Erlebnis» hat in den letzten Jahrzehnten weiter an Bedeutung hinzugewonnen. Daraus lässt sich für den Detailhandel ableiten, dass die Verkaufsgeschäfte zum Medium werden, an dem weniger der Verkauf von Produkten im Vordergrund steht, sondern entsprechende Erlebnisse für die Kunden. Dabei wird auch ein Umdenken im Bereich der Erfolgskontrolle stattfinden, so wird das Geschäft nicht mehr am Umsatz gemessen, wie dies bis anhin geschieht, sondern an der Anzahl Besucher, der Aufenthaltsdauer, oder anhand der Produkte, die angeschaut, aus- oder anprobiert werden. Die Produkt-Hersteller werden den Händler dann nach Anzahl der vermittelten Eindrücke, Kontakte, Gespräche oder Aktivitäten bezahlen. Der Händler kann sich von seinen Mitbewerbern nur noch durch Erlebnisse abheben.

Allen Detailhändlern, die sich dieser neuen Situation nicht stellen, wird das gleiche Schicksal wie der Taxi- oder der Hotelbranche zuteil – sie werden wegdigitalisiert. Instacart, ein US-Lieferdienst, funktioniert bereits nach diesem Schema und gleicht daher eher einer Softwarefirma. Dabei ist Instacart ein Händler ohne Ware/Produkte. Die Kunden bestellen Produkte per App, die danach von unabhängigen Einkäufern zusammengetragen und innerhalb einer Stunde ausgeliefert werden. Mit so viel Flexibilität und derart niedrigen Fixkosten kann kein anderer Händler aufwarten. Sollte sich dieses Geschäftsmodell im grossen Stil durchsetzen, geraten alle klassischen Detailhändler unter grossen Druck.

Die bereits sichtbare Konsolidierung wird in allen Industrieländern weitergehen. Austauschbare Konsumgüter-Produkte ohne emotionalen Hintergrund werden es dabei schwerer haben, sich zu behaupten, als Produkte aus dem Bereich der Luxusgüter, wie Schmuck, Uhren, Kosmetik, Delikatessen oder Parfüm. Bei diesen Produkten können während des Einkaufs emotionale Werte mittransportiert werden, wie beispielsweise ein bestimmtes Lebensgefühl.

Siehe auch Blog-Beitrag: Preisbildung im Online-Geschäft

Siehe auch Blog-Beitrag: Digitale Branchenentwicklungen: E-Commerce – Online-Handel

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